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Arbeitsbedingungen bei Gorillas, Flink, Lieferando Ausgeliefert

Das Essen auf die Couch, die Reinigungskraft nach Hause: Das wachsende Onlinegeschäft hat verheerende Folgen für die Arbeitskräfte. Ein Report zeigt, wie viel falschläuft – und offenbart Überraschendes.
Möglichst schnell, möglichst günstig: Der Konkurrenzkampf bei Lieferdiensten ist enorm (Symbolbild)

Möglichst schnell, möglichst günstig: Der Konkurrenzkampf bei Lieferdiensten ist enorm (Symbolbild)

Foto: Michael Gstettenbauer / IMAGO

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»Die Manager, die es gut mit den Fahrern meinten, die bei Sturm und Hochwasser gesagt haben: ›Ich kann die Menschen nicht auf die Straßen lassen‹, die haben aktiv Druck von oben bekommen und sind jetzt auch nicht mehr da. Es wurde aktiv gegen die Sicherheit von Fahrern angearbeitet. Egal, ob bei Wind, Schauern oder Glätte.«

Pascal D.* ist 28. So wie D. arbeiten Zehntausende angestellt bei Firmen, die digital ihre Dienste anbieten. Man kann sich von D. per App Bier liefern lassen, aber auch Chips oder Spülmittel. Innerhalb von zehn Minuten, so das Versprechen, soll man den Einkauf dann zu Hause haben. Die Aufträge dafür bekommt D. auf sein Smartphone. Ein Jahr lang arbeitete er als Fahrer für einen der größten und perfidesten Spieler in diesem wachsenden Markt: dem Berliner Liefer-Start-up Gorillas.

Digitale Plattformen sind ein ernst zu nehmender Markt geworden

Er sei dort noch einer der »Privilegierteren« gewesen, sagt D. Die meisten seiner ehemaligen Kollegen sprechen, anders als er, kaum Deutsch, sind auf der Suche nach einem Job und können sich nur schwer der Schikanen erwehren, die auch D. im Gespräch immer wieder beschreibt. Um ihn zu schützen, halten wir seine Identität in diesem Text anonym. Im Oktober vergangenen Jahres hatte Gorillas einer Reihe streikender Fahrer in Berlin gekündigt. Erst nach einem Jahr konnte im Unternehmen ein akzeptierter Betriebsrat eingesetzt  werden. Nicht ohne immensen Widerstand.

Fast sechs Prozent  der Erwerbstätigen in Deutschland beziehen mindestens ein Viertel ihres Einkommens aus sogenannter Plattformarbeit. Online bieten sie ihre Dienste an oder lassen sich dort auf Stellen vermitteln. Dass es immer mehr Menschen werden, die damit ihren Lebensunterhalt verdienen, hat auch damit zu tun, dass man sich dort heute fast alles bereitstellen lassen kann: Nicht nur Grillfleisch und Bier, auch den nächsten Job oder die Pflegekraft. Und: die Menschen lieben es. Man muss dafür ja nicht mal mehr vor die Haustür.

Mehr als jeder zweite Deutsche hat schon mal online gekauft

Vier von fünf Deutschen, das zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamts aus dem Dezember vergangenen Jahres, ordern mittlerweile über das Internet: 80 Prozent der 16- bis 74-Jährigen in Deutschland haben das in ihrem Leben schon einmal gemacht; knapp 49 Millionen Menschen also.

Dass das zwar bequem ist, aber auch prekäre Beschäftigungsformen geschaffen hat, dürfte den meisten zwar bewusst sein, der steigenden Nachfrage nach Plattformdiensten in Zukunft jedoch kaum einen Abbruch tun, vermuten Experten.

Die Arbeitsbedingungen in der Branche hat nun zum zweiten Mal das Forschungsprojekt »Fairwork« in den Blick genommen. Dahinter stehen das Oxford Internet Institute und das Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung. Finanziert wird das Projekt  aus deutsch-britischen Forschungstöpfen. Es wird in mehr als 20 Ländern durchgeführt. Der Report beurteilt die Fairness einzelner digitaler Plattformen anhand ihrer Bezahlung, den vorherrschenden Arbeitsbedingungen, der vertraglichen Transparenz, der Offenheit in den Unternehmensabläufen und der Möglichkeit auf Mitbestimmung durch die Mitarbeitenden. Recherchiert wurde dafür nicht nur am Schreibtisch, sondern vor allem in Interviews mit Anbietern und Mitarbeitenden. Pro Plattform wurden dabei zwischen sechs und zehn Interviews mit Arbeitern geführt. In die Bewertung gingen dabei nur Dinge ein, die sich auch »empirisch« belegen ließen, so schreiben es die Macher des Reports. Der faire Verdienst oder die Möglichkeit, dass sich Mitarbeitende im Unternehmen organisieren können, etwa.

In Deutschland untersucht wurden zwölf Anbieter: Zenjob, Wolt, Lieferando, Flink, Careship, Getir, Amazon Flex, Betreut.de, Helpling, Gorillas, FreeNow und Uber. Bewertet wurde auf einer Skala von eins bis zehn. Um, am Beispiel der Bezahlung, einen Basispunkt zu bekommen, muss die jeweilige Plattform ihren Arbeitern mindestens den gesetzlichen Mindestlohn zahlen, dieser lag bis zum Dezember 2021 , dem Ende des Beobachtungszeitraums, in Deutschland bei 9,60 Euro pro Stunde. Einen Zusatzpunkt gab es, wenn Unternehmen einen »existenzsichernden Lohn« gezahlt haben. Hierbei wurde sich am aktuellen Satz von Konsumausgaben privater Haushalte des Statistischen Bundesamtes  orientiert. Die Forschergruppe legte hier einen Stundensatz von 14,50 Euro zugrunde.

Große Unterschiede in allen Bereichen

Oğuz Alyanak , 37, ist einer von sieben Autoren des deutschen »Fairwork«-Reports. Alyanak und seine Kollegen haben vor allem eines festgestellt: Die Kluft zwischen den Anbietern ist noch immer riesig. »Zwar sehen wir, dass einzelne Plattformen große Anstrengungen unternehmen, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern, wir sehen aber auch, dass es von Plattform zu Plattform, und teils von Standort zu Standort, große Unterschiede gibt; in allen Bereichen«, sagt Alyanak.

Haben einige Anbieter wie Wolt und Flink, laut Report, mittlerweile externe Kontrolleure, die die Arbeitsbedingungen kontrollieren und bieten unbefristete Anstellungen (Lieferando und Flink), scheinen Anbieter wie Gorillas auch knapp zwei Jahre nach Gründung noch weit davon entfernt. Zwar seien die Verträge hier mittlerweile »umfassend, aber nicht unbefristet«, so der Report. Außerdem komme es in einigen Fällen ohne »triftigen Grund« zu Kündigungen, notwendiges Equipment erreiche die Fahrer deutlich verspätet. D. bestätigt gegenüber dem SPIEGEL all das:

»Meine Winterausrüstung habe ich nie bekommen, die 50 Euro dafür sind trotzdem von meinem Lohn abgegangen. Bei den zehn Minuten, mit denen anfangs für eine Lieferung geworben wurde, waren die E-Bikes ein großes Plus. Die Räder waren aber ein großer Haufen Scheiße. Mir sind regelmäßig beim Fahren Pedale abgefallen, Bremsen haben nicht funktioniert.«

Das ist längst kein Gorillas-Phänomen. Überraschend ist: Auch bei weniger bekannten Anbietern, die einen seriöseren Anschein wahren, kommt es zu großen Problemen. Bei Diensten, die Hausarbeit (Helpling, Betreut.de) oder Pflege (Careship) anbieten, sagt Alyanak, hätten die Interviews mit Angestellten gezeigt, dass weder persönliche Schutzausrüstung gestellt, noch die Kosten für Schnelltests und PCR-Tests übernommen würden. Und das, obwohl einige der Anbieter von ihren Mitarbeitenden mutmaßlich teils hohe Provisionen einbehalten würden. Was man tatsächlich bekomme, sei teilweise kaum zu durchschauen, bestätigt auch D.:

»Die Lohnzahlung wurde im vergangenen Sommer an einen externen Dienstleister ausgelagert. Das heißt: Man spricht nicht mehr mit Gorillas selbst über seinen Lohn und es ist eine weitere Instanz zwischengeschaltet. Beherrscht man dann kaum oder gar kein Deutsch, hat keine Kenntnisse über das Rechtssystem, wie wahrscheinlich 90, 95 Prozent meiner ehemaligen Kollegen, ist es fast unmöglich, für seine Rechte einzustehen.«

So attestiert der Report neben einigem Licht auch eine ganze Menge Baustellen, die die Plattformunternehmen angehen müssen: »Wir sind sehr gespannt darauf, wie etwa auf die Erhöhung des Mindestlohns reagiert wird«, sagt Alyanak.

D. wird sich damit nicht mehr beschäftigen müssen. Sein Vertrag bei Gorillas ist Ende vergangenen Monats ausgelaufen. Er sei nicht traurig darüber, sagt er.

*Anmerkung der Redaktion: Auf Wunsch des Protagonisten haben wir den Namen verändert. Die inhaltlichen Aussagen sind davon nicht betroffen. Dem SPIEGEL sind die Person und der Name bekannt.

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